Ethische Grundregeln des Yoga: 1. Nichtverletzen

Die Yoga Wissenschaft gibt uns fünf ethische Regeln (yamas) an die Hand, die im Umgang mit sich und anderen beachtet werden sollten, als Schlüssel für ein reibungsloses Miteinander aller Menschen.

Die erste und wichtigste Regel ist ahimsa, Nichtverletzen oder Gewaltlosigkeit. Dabei meint es nicht nur, dass man keine körperlichen Verletzungen oder materielle Schäden anrichten soll, sondern auch, dass man keine verletzenden Worte spricht oder Gedanken denkt. 

Um diese innere Einstellung zu entwickeln, braucht man einige Übung, denn zuerst mal muss man das Bewusstsein und Gespür dafür erschaffen, wann man etwas Verletzendes tun, sagen oder denken will. Manche Menschen müssen erst ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion ausbauen, um ihre eigenen Regungen beobachten und ihren Geist genügend beherrschen zu können (vgl. raja yoga, der Weg der Herrschaft über den Geist).

"Warum sollte ich mich dafür so anstrengen?"

In der Physik gibt es das dritte Newtonsche Gesetz, bei den Wicca das Dreifach-Gesetz, in der Yoga Wissenschaft das Gesetz des Karma, ... - alle diese Gesetze beschreiben, dass jede Handlung eine entsprechende Reaktion auslöst.

Je nach Einstellung deines Radio-Empfängers (/ deiner inneren Einstellung) empfängst du den Inhalt mit der entsprechenden Frequenz (/Qualität). Die Stärke hinter dieser Einstellung unterschätzt man oft. Man schätzt sie aber, sobald man Erlebnisse macht, in denen man diese schützende Kraft direkt erfährt - Situationen, nach denen man denkt "keine Ahnung, wie ich das überleben konnte", weil die theoretische Wahrscheinlichkeit dafür eigentlich viel zu klein war. Viele Weißen heben die Bedeutung dieses Gesetzes hervor, z.B. sagt Patanjali, dass jemand, der ganz diese Einstellung lebt, keine Feindschaft erfahren kann. Bekannt ist auch die Stelle aus der Bergpredigt, in der Jesus uns motiviert, nach einem Schlag auf den rechten Backen auch noch den linken anzubieten.

 

Durch diese Haltung wird keiner Aggression ein Widerstand geboten; die Wirkung verpufft, weil wir nicht empfänglich sind für diese Qualität. Wenn wir uns selbst ganz auf "ahimsa FM" einstellen, dann bekommen wir es nicht mit, was auf "Angriff FM" gesendet wird. Zusätzlich ist das Nichtverletzen in dieser Situation die einzige Möglichkeit, die Spirale (den "Teufelskreis") aus Gewalt und Negativität zu unterbrechen. Vielleicht gibt der Aggressor ja auch nur die Gewalt weiter, die er von seinem Chef in Form eines Einlaufs bekommen hat. Und vielleicht musste der Chef damit nur seinem Frust Luft machen, weil ihn seine Frau rund gemacht hat, weil er vergessen hatte, einzukaufen......

In dem Moment, indem wir nicht, wie der Angreifer erwartet, mit Gegenangriff reagieren, kommt die Gewaltkette zur Ruhe und er bekommt die Gelegenheit, sich seiner Regung bewusst zu werden und sie zu hinterfragen. 

 

"Oh je, was mach ich da eigentlich gerade mit dem armen Kerl? Der hat doch gar nichts falsch gemacht. Warum bin ich so aggressiv?"

Natürlich spürt der Körper Schmerzen, wenn man auf die Backe geschlagen wird. Jesus wurde am Kreuz aufgehängt und hat trotzdem noch dort für die Täter um Vergebung gebeten. Der innere Wunsch, in der Situation ahimsa zu üben und dem Angreifer die Möglichkeit zur Selbstreflexion zu geben, ist jedoch viel wichtiger, als der Wunsch, durch Rache Üben die Gewalt auszugleichen. Nebenbei sammeln wir dadurch viel positives Karma, weil wir nicht nur die Gewalt auflösen, sondern auch Nächstenliebe geben. In jeder Situation sollen wir ein Gefühl des Wohlwollens für alle Wesen bewahren - die Liebe zum Nächsten, die Jesus gepredigt hat. Darum geht es u.a. auch im bhakti yoga: Erkenne den göttlichen Funken in jedem Menschen und hilf der Seele, sich zu entwickeln, vom Zustand, in dem sie überdeckt ist von Ego, Körper und Unwissenheit, in den Zustand der Befreiung (moksha) - so wie sich ein kleines, unerfahrenes Kind entwickelt zum weißen Erwachsenen. Auch den Kindern müssen wir Verständnis darbringen, solange sie noch (u.a. durch Fehlern) lernen. Im Ausdruck "namaste" steckt diese Erkenntnis: "Ich erkenne diesen göttlichen Funken in dir und auch ich trage so einen in mir. Unsere Funken kommen aus der gleichen Quelle. Wir bestehen aus unterschiedlichen Licht-Farben, die aus der gleichen Licht-Quelle kommen." Jedes Wesen ist Geschöpf Gottes und indem wir ihm liebevoll Dienen, verehren wir den Schöpfer durch seine Schöpfung.

"Da soll ich mich also lieber selber strafen?!?"

Ein Fehler, der im Zusammenhang mit ahimsa oft gemacht wird, ist, dass man sich zwar (scheinbar) viel für andere einsetzt, aber nicht liebevoll zu sich selbst ist.

Wie soll jemand ohne zu verletzen leben, wenn er nicht einmal Gewaltlosigkeit gegenüber sich selbst üben kann?

 

Wenn ahimsa keine Gewaltlosigkeit gegenüber sich selbst als solide Basis hat, dann ist die nach Außen getragene Friedfertigkeit nur Heuchelei. Schlimmer noch: Man denkt, dass man sich richtig verhält, aber schadet dem friedlichen Miteinander durch die Art, wie man es tut, weil die Motivation nicht ehrlich ist. Andere Menschen sehen dieses Verhalten, beispielsweise, dass jemand sich vegetarisch ernährt, weil das für ihn zu ahimsa dazu gehört - obwohl er bekanntlich Geflügel liebt. Bei diesen Menschen entsteht dann z.B. die Idee, dass das Vegetariertum total verrückt sei. Somit gibt man das Ideal ahimsa der Lächerlichkeit preis und hemmt seine Verbreitung und damit das friedliche Miteinander. Viele spirituelle Menschen, die den Wert von ahimsa erkennen, machen diesen Fehler und freuen sich, weil sie sich scheinbar weiter entwickeln. Nach einiger Zeit merken sie aber, dass der spirituelle Fortschritt stockt und es ist nicht einfach, die Ursache zu finden, da sie sich ja scheinbar total korrekt verhalten.

 

In der Yoga Wissenschaft ist unter den vier Zielen, die die Menschen verdienen (purushartas), auch die Erfüllung von weltlichen Wünschen (kama). Natürlich sollte man seine Ziele immer auf sattwige Art versuchen zu erfüllen. Dennoch bekommt dieser Punkt leider nicht viel Beachtung. Im Dreifachgebot von Jesus (Mt. 22) findet man allerdings eine schöne Zusammenfassung - zu aller erst betont er den Aspekt von bhakti (siehe oben im Text):

 

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt.“

Und mit der gleichen Wichtigkeit betont er:

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Er sagt eben nicht, du sollst dich verbiegen und die Gewalt in dich selbst richten, sondern zu deinen Mitmenschen genauso liebevoll sein wie zu dir.

 

Wenn dir also das nächste mal Jemand auf die rechte Backe schlägt und dir in diesem Augenblick klar wird, dass du noch kein vollkommen erleuchtetes Wesen bist, das ohne Unterbrechung ahimsa praktizieren kann und du jetzt nicht die linke Backe reichen möchtest, dann versuche folgendes:

  • Freue dich, dass du die Erkenntnis hast, dass jetzt ahimsa gegenüber dem Angreifer angebracht wäre. Erkenntnis ist der erste Schritt. Vielleicht kommst du schon beim nächsten Mal einen Schritt weiter.
  • Freue dich, dass du die Erkenntnis hast, dass jetzt ahimsa dir selbst gegenüber angebracht ist und du bereit bist, das jetzt zu üben.
  • Verurteile dich nicht, weil du noch kein erleuchtetes Wesen bist - das würde gegen ahimsa verstoßen.
  • Falls du gewaltsame Gedanken entwickelt hast: Verzeihe dir und überlege dir nochmal, ob du das wirklich so gemeint hast.
  • Werde dir bewusst, dass dein Angreifer noch nicht so weit entwickelt ist wie du, denn er ist sich wohl nicht dessen bewusst, dass der gerade gewaltsam handelt. Er ist kein gleichwertiger Gegner, sondern eher ein Schüler, der Unterstützung benötigt, um seine Selbstreflexion auszubauen.
  • Überlege dir, ob es vielleicht genügt, deine Reaktion durch die Lautstärke und Intonation deiner Sprache auszudrücken. Falls du dich körperlich ausdrücken musst: Genügt evtl. ein auf den Tisch Hauen?
  • Sag deinem Gegenüber ganz liebevoll und deutlich, was du gerade beobachtet hast; was das in dir für ein Gefühl ausgelöst hat; welches Bedürfnis in dir geweckt wurde und um was du ihn bitten möchtest.

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(Swami Sivananda)